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Das alte Ostpreußen: Ostseestrände, Wälder, feudaler Adel und arme Kleinbauern. Ostpreußens Geschichte ist die des ewigen Außenpostens. Immer spielte Ostpreußen eine Sonderrolle: als Insel fern vom Deutschen Reich, als Preußen-Bollwerk, als Heimat von seltsam sprechenden Menschen. Sein dramatischer Untergang steht einzigartig da. So wurde Ostpreußen zum Mythos.
Das alte Ostpreußen. Grandiose Landschaften und Ostseestrände, Trakehner Pferde und der sinnbildliche Elch. Die Menschen aus dem Deutschen Reich kennen die Region als Sommerfrische. Wer es sich leisten kann, fährt mit dem "Seedienst" ans Frische Haff oder an die Kurische Nehrung.
Und die Politik verklärt Ostpreußen zum Bollwerk, zum Vorposten des Deutschen Reiches im Osten. Ostpreußen ist seit dem Versailler Vertrag durch den so genannten polnischen Korridor vom Reich getrennt. Das schürt Ressentiments gegen den polnischen Nachbarn.
Ostpreußen – ein Land der Gegensätze.
Ein Agrarland, das für die meisten nur ein karges Dasein bieten kann. Daran ändern auch finanzielle Strukturhilfen der Weimarer Republik nichts – zumal sich Bauernfunktionäre die Gelder in die eigene Tasche stecken. Die Kleinbauern gehen oft leer aus. Ganz anders lebt der ostpreußische Adel. Nirgendwo sind die Gutshöfe prächtiger, die Ländereien weitläufiger und der Standesdünkel ausgeprägter.
"Ich lebte in einer fest gefügten Welt, ich kannte es nicht anders", erinnert sich Hans Graf zu Dohna, Spross eines der ältesten Adelsgeschlechter in Ostpreußen. Es lebt aber noch ein Stück Toleranz. Die masurische Sprache, der polnischen sehr ähnlich, wird gepflegt, Königsberg ist immer noch ein geistiges Zentrum. Doch die Menschen wenden sich einem neuen Propheten zu: Adolf Hitler. Die Nationalsozialisten versprechen die "nationale Auferstehung", schüren den Frust über die Demokratie.
Mit Erfolg: Bei den Wahlen 1932 ist Ostpreußen eine Hochburg der NSDAP. Der Nationalsozialismus nimmtOstpreußen im Sturm. Die verarmten Bauern versprechen sich Hilfe. Aber auch der Adel schlägt sich in der Mehrheit auf die Seite von Adolf Hitler.
Ostpreußen gerät in den Sog von Terror und Krieg. 1938 brennt die Königsberger Synagoge. Regimegegner werden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. In Ostpreußen herrscht Gauleiter Erich Koch – ein Hitler im Provinzformat. Er verkündet feierlich den "Ostpreußenplan", lässt Straßen bauen, und sogar ein Stück Autobahn erreicht die ferne Provinz. Ein eigener Gauleiter-Kult entsteht.
Sommer 1939. Die Provinz wird zum Aufmarschgebiet für den Polenfeldzug. Nach dem Angriff verschwindet der "Korridor". Größere Teile Polens werden Ostpreußen zugeschlagen. Eine Million Polen, darunter viele Juden, kommen unter die Zwangsherrschaft des ostpreußischen Gauleiters. Darunter Genia, eine junge Zwangsarbeiterin aus Polen, die bei Familie Donder in der Landwirtschaft hilft.
Günther Donder erinnert sich: "Eines Tages kam Genia aus dem Dorf in Tränen aufgelöst und sagte: "Jemand hat mir ins Gesicht geschlagen!" - "Weshalb?" – "Weil ich kein P getragen habe!"
Mit dem "P" mussten sich polnische Zwangsarbeiter kennzeichnen. Genia wird später in eine der Munitionsfabriken des Reiches deportiert, wo sie bis Kriegsende schuftet.
Aus der Wolfsschanze bei Rastenburg plant Hitler auch seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Mit der militärischen Wende im Osten wächst die Gefahr für die Zivilbevölkerung in Ostpreußen. "Wir waren jung und wollten unser Leben genießen. Tanz auf dem Vulkan, das Gefühl hatte man. Doch dann sahen wir die ersten Flüchtlingszüge. Wir haben uns nur in die Augen geblickt: Was wird noch kommen?" Gisela Hannig erlebt so den Sommer 1944. Die Rote Armee steht an den Grenzen. Doch Ostpreußen ist sicher, tönt die NS-Propaganda.
Im August wird Theo Nicolai mit anderen Königsberger Hitlerjungen zu militärisch sinnlosen Schanzarbeiten an den "Erich-Koch-Wall" abkommandiert. Ende August dringen die ersten Nachrichten von der Bombardierung Königsbergs durch, für Theo Nicolai bricht eine Welt zusammen: Sein Elternhaus ist völlig zerstört. "Wir haben Wind gesät und Sturm geerntet. Es war leider so", sagt Nicolai rückblickend. Die Legende vom "sicheren Ostpreußen" bricht in sich zusammen.
Es folgt die größte Massenflucht der Geschichte. Mitte Januar beginnt die Rote Armee ihre Offensive. Mehr als 1,5 Millionen Soldaten überrollen das Land. Die Menschen fliehen in Panik an die Ostsee, in verstopfte Häfen und auf überfüllte Schiffe. Von 2,5 Millionen Ostpreußen sind zwei Millionen auf der Flucht. Hunderttausende sterben im Eis, im Geschützhagel, im Tieffliegerfeuer.
Wer lebend zurückbleibt, muss sich einem neuen Überlebenskampf stellen. Irmgard Schneiderat wird auf der Flucht eingeholt und von Soldaten vergewaltigt. Andere Frauen helfen ihr. "Sie haben mich wahrscheinlich weinen und jammern gehört. Sie haben mir die Zöpfe abgeschnitten. Dann wurden die Haare kurz geschnitten und von da an war ich ein Junge." Die folgenden Jahre überlebt sie nur dank ihrer Tarnung: Im Dienste der sowjetischen Besatzer schlägt sie sich auf einer Sowchose als Kutscherjunge durch.
Schon 1945 wird der Untergang des alten Ostpreußens offiziell besiegelt. Das Land wird aufgeteilt. Den Norden nehmen sich die Sowjets. Das alte Königsberg heißt nun Kaliningrad, nach Stalins Weggefährten. Die Stadt, Vorposten der Sowjetunion im Westen, wird zur sozialistischen Mustersiedlung umgebaut: Die Ruine der einstigen preußischen Metropole weicht gewaltigen Plattenbausiedlungen.
Der südliche Teil Ostpreußens wird polnisch. Neusiedler, darunter Vertriebene aus Polens Osten, den sich Stalin einverleibt hat, suchen hier eine neue Heimat. Für die Deutschen ist kein Platz mehr. Nur ganz wenige bleiben trotzdem.
Der junge Masure Erich Neumann ist allein in seinem Dorf Pustnik, seit 1945 die Mutter geflohen ist und der Vater von den Russen abgeholt wurde. Erich Neumann lebt noch heute in seinem Elternhaus. "Das ist meine Heimat. Ich bin hier geboren und zur Schule gegangen, habe eine deutsche Schule besucht und eine polnische. Eingesegnet wurde ich, und geheiratet hab ich. Und deswegen muss ich hier begraben werden. In Masuren."
Film von Florian Huber